Über Afrika und die Ankunft vieler Flüchtlinge wird in Deutschland heftig gestritten. Dabei lassen sich die Deutschen von ihren Gefühlen und Ängsten hinreißen. Ein realistischer Blick tut not.
Die aktuelle Lage in Afrika und wie sich Deutschland zu seinem Nachbarkontinent im Süden stellen soll, wird derzeit so heftig im Land diskutiert wie lange nicht. Kürzlich habe ich eine Podiumsdiskussion zu dem Thema moderiert, ob sich durch Entwicklungspolitik Fluchtursachen beheben lassen. Wegen des großen Andrangs musste die Veranstaltung in einen größeren Raum als vorgesehen verlegt werden, und auch dann noch mussten viele Interessenten vor der Tür wegen drohender Überfüllung des größeren Saals abgewiesen werden.
Neulich nahm ich dann an einer kleineren Diskussionsrunde in einer deutschen Großstadt teil. Die Teilnehmer stammten allesamt aus besseren, gebildeten Kreisen. Als die Rede auf Afrika kam, wurde es emotional. Es fielen Worte, die ich als schockierend empfand, zum Teil als rassistisch. Da war von „Horden“ die Rede, die angeblich Deutschland wahlweise „überfluten“ oder „unterwandern“. Man müsse die deutschen Grenzen vor diesem „Ansturm“ schützen, notfalls militärisch, und man verglich die Deutschen mit den Römern, die ja schon von den Germanen „überrannt“ worden seien. Man fühle sich nicht mehr zu Hause in Deutschland – „überall sind Schwarze zu sehen, schauen Sie sich doch mal um“, rief eine Dame hysterisch und verwies auf ihre Eindrücke vom Hauptbahnhof in München.
Die afrikanische Bevölkerung werde sich vervierfachen und Europa „überschwemmen“, behauptete ein Diskussionsteilnehmer. Auf den Hinweis, dass sich die Bevölkerungszahl in Afrika bis zum Jahr 2050 laut UN-Prognose auf 2,5 Milliarden verdoppeln werde und nicht vervierfachen, entgegnete der Redner, ebenfalls sehr gebildet: „Das ist mir egal. Ich bleibe bei meiner Zahl. Die afrikanische Bevölkerung wird sich vervierfachen.“
Auf die Bemerkung hin, dass laut BAMF, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge zum großen Teil aus Syrien, Irak und Afghanistan stammen und nur zum kleinen Teil aus Afrika, haben mir zwei Damen entrüstet entgegengeschleudert: „Die kommen doch von überall, übers Mittelmeer und von sonst woher.“
Was ist los in Deutschland? Offenbar geben sich die Deutschen ihrem Hang hin, ungezügelt ihren Gefühlen und Ängsten nachzugeben und eine gefühlsbetonte Politik zu betreiben. Diese Neigung zur Romantik, zur Beschwörung dunkler Mächte und einer ungehemmten Gefühlsduselei verstört immer wieder die außenpolitischen Partner Deutschlands. Dabei ist es gerade gegenüber Afrika geboten, eine Politik zu verfolgen, die sich an Realitäten und Fakten orientiert.
Hier einige Fakten zur angeblichen Überflutung Deutschlands:
- 10,04 Millionen Ausländer lebten laut Ausländerzentralregister Ende 2016 in Deutschland.
- 1,49 Millionen Ausländer stammen aus der Türkei, dem größten Herkunftsland. Die Zahl der Türken in Deutschland ist 2016 gegenüber dem Vorjahr um 13.533 gesunken.
- Ausländer aus Polen, Italien, Rumänien, Syrien, Griechenland, Kroatien, Russland, Serbien, Bulgarien, Kosovo, Österreich und Ungarn folgen auf den weiteren Rängen in der deutschen Ausländerstatistik.
- Das erste afrikanische Land der Ausländer in Deutschland ist Marokko auf Rang 31 mit 75.855 Menschen. Immerhin ist ihre Zahl gegenüber dem Vorjahr um 3726 gestiegen. Das ist ein Anstieg um etwas mehr als 5 Prozent.
- Das afrikanische Land mit der zweitstärksten Präsenz in der deutschen Ausländerstatistik ist auf Rang 34 Eritrea mit 59.800. Hier betrug der Anstieg gegenüber dem Vorjahr 19.731 oder 41 Prozent.
- Auf dritter Position unter den afrikanischen Herkunftsländern in der deutschen Ausländerstatistik liegt Nigeria mit 50.400 Menschen. Ihre Zahl ist im vergangenen Jahr um 13.036 oder 35 Prozent gestiegen.
- Damit machen die Menschen aus diesen drei Ländern – Marokko, Eritrea und Nigeria – gerade einmal 53 Prozent der Griechen in Deutschland oder 56 Prozent der Kroaten, die in Deutschland leben, aus.
- Insgesamt leben in Deutschland 375.054 Afrikaner. Das sind nicht mehr als 3,7 Prozent aller in Deutschland lebenden Ausländer oder 0,45 Prozent aller Einwohner Deutschlands.
Von einer „Völkerwanderung“, von der Deutschland überrollt würde, einer „Unterwanderung“ oder einer „Überflutung“ zu reden, ist angesichts dieser Zahlen maßlos übertrieben. Offenbar haben die Bilder des Jahres 2015 eine Hysterie ausgelöst, die sich von Fakten völlig losgelöst hat.
Selbst wenn sich die Zahl der Afrikaner in Deutschland auf 750.000 verdoppelte, läge ihre Zahl spürbar unter der Zahl der 783.085 Polen, die sich für ein Leben in Deutschland entschieden haben.
Es sind die Prognosen, die diese Ängste weiter anheizen. So hatte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Oktober 2016 vor einer Einwanderungswelle gewarnt: „Der Migrationsdruck wird in den nächsten Jahren dramatisch zunehmen, wenn wir es nicht schaffen, wirtschaftliche Perspektiven in den afrikanischen Ländern zu schaffen.“ Wollte Müller mit dieser Äußerung appellieren, stärker in Afrika zu investieren, nutzten andere Prognosen wie diese, um das Schreckensbild von Millionen Afrikanern zu zeichnen, die angeblich nach Deutschland drängten.
Eine Afrikapolitik, die sich nicht an Stimmungen und Massenhysterie orientiert, sondern an Fakten, sollte sich unserer Meinung nach auf folgende Fakten stützen:
- Afrika ist ein Kontinent mit dauerhaft hohen Wachstumsraten geworden.
- Noch nie war Afrika politisch so stabil wie heute.
- Noch nie waren die Zahl und die Intensität militärischer Konflikte in Afrika so niedrig wie heute.
- Der Bildungsgrad in Afrika ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Die Herausforderung liegt vor allem darin, auch Kindern aus sozial schwachen Schichten den Zugang zu Bildung und Ausbildung zu ermöglichen.
- Nicht alle Afrikaner profitieren gleichermaßen vom Aufschwung. Entscheidend für den Zusammenhalt der Gesellschaft in Afrika wird es sein, die daraus resultierenden sozialen Spannungen zu mildern.
- In vielen Ländern leben Christen und Moslems friedlich, zumindest ohne größere Konflikte zusammen.
- Islamismus wie auch die Fanatisierung von Christen sind nicht nur einer angeblichen religiösen Radikalisierung geschuldet. Sie sind auch Ausdruck sozialer und wirtschaftlicher Spannungen in den betroffenen Ländern.
- Die Herausforderung liegt weniger darin, Afrika insgesamt wirtschaftlich nach vorne zu bringen. Vielmehr geht es darum, dass zurückgebliebene Regionen nicht den Anschluss an die wirtschaftlich erfolgreichen Regionen Afrikas verlieren.
- Das Bevölkerungswachstum von heute 1,2 Milliarden Afrikaner auf 2,5 Milliarden im Jahr 2050 wird nach Berechnungen der OECD dauerhaft positiv zur afrikanischen Wirtschaftsleistung beitragen, wobei der Beitrag dieser demographischen Dividende in den Jahren 2025 und 2030 am größten ausfallen wird.
- Um das Wirtschaftswachstum in Afrika zu verstetigen, sind ein Ausbau und die Stärkung der politischen und administrativen Institutionen notwendig.
- Afrika ist wirtschaftlich immer weniger auf Europa angewiesen.
- Der Beitrag, den Europa in Afrika leisten kann, liegt nicht nur in Entwicklungshilfe und Investitionen. Europa kann zur Stärkung der politischen Institutionen, des juristischen Regelwerkes, dem Ausbau von Universitäten, Bildungs- und Forschungseinrichtungen beitragen.
- Die Beziehungen zwischen Schwellenländern werden in den kommenden Jahren intensiviert.
- Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Afrikas haben sich in den vergangenen Jahren enorm verbreitert. Nicht nur China baut seine Beziehungen zu vielen afrikanischen Ländern aus, auch Indien, Brasilien, die Türkei und viele andere.
Dies sind nur einige Stichpunkte, deren Liste bei weitem nicht vollständig ist.
Wichtig jedoch ist, dass wir Deutsche Afrikanern nicht mehr mit dem Überlegenheitsgefühl des weißen Kolonialherren oder des großmütigen Entwicklungshelfers begegnen. Denn das Bild, das wir den in Deutschland lebenden Afrikanern vermitteln, wird auf uns zurückfallen. Wir haben es in der Hand, ob die Afrikaner uns Deutsche als hasserfüllte, angstgetriebene Menschen erleben, die ihre Emotionen nicht im Griff haben, oder ob sie uns als Menschen sehen, die bereit sind, sich auf den Wandel, den diese Welt durchlebt, positiv und zukunftsfroh einzulassen.