Die FAZ behauptet in einem Leitartikel, dass „Afrika leidet“. Die Realität ist komplexer und erschließt sich nur teilweise durch Statistiken. Clichés und Vorurteile verstellen den Blick auf die wahre Lage.
Einen tristen Befund stellt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in ihrer heutigen Ausgabe in einem Leitartikel über Afrika aus. „Die allermeisten Länder Afrikas sind bitterarm“, heißt es dort beispielsweise. Oder auch, „dass ein Drittel bis die Hälfte der jungen Leute vom Auswandern träumen“. Überschrieben ist der Leitartikel in der Printausgabe mit „Afrika leidet“, in der Onlineversion mit „Woran Afrika wirklich leidet“.
Die Realität ist komplexer, als die FAZ es suggeriert. Zunächst einmal: Ein Land kann nicht leiden. Nur Menschen können es, und die Lebensbedingungen sind in Afrika in dem einen Land härter als in anderen. Wirtschaftlich zurückgeblieben sind vor allem die Binnenländer und die Länder der Sahelzone. Andere Länder dagegen weisen zum Teil beeindruckende wirtschaftliche Erfolge auf: Senegal, Ghana, Elfenbeinküste, selbst der Westen der DR Kongo, Kenia, Tansania, Uganda, Ruanda, Äthiopien, Sambia, Botswana, Namibia, selbst Somaliland, auch Südafrika und viele andere.
Statistiken, die den gesamten afrikanischen Kontinent betreffen, lesen sich in etwa so, als wolle man einen statistischen Befund für Europa von Portugal über Norwegen, Kosovo, Ukraine, Weißrussland, Spanien, Griechenland, Island, Malta, Russland, Frankreich, Slowakei bis an den Ural anstellen und in wenigen Zahlen erfassen. Was für Albanien stimmen mag, muss für Luxemburg nicht richtig sein.
Genauso verhält es sich mit Afrika: Der Kontinent zählt 55 Länder und hat von Algier bis Kapstadt eine Länge von mehr als 12.000 Kilometern. Dazwischen leben schätzungsweise 1,3 Milliarden Menschen, die vermutlich an die 2000 verschiedenen Sprachen sprechen und oft nicht mehr gemeinsam haben wie ein Portugiese mit einem Finnen.
Die Behauptung, die “meisten Länder” in Afrika seien arm, sagt nichts aus. Denn die Zahl der Länder, in denen es Armut gibt, enthält keine Information über die Zahl der Menschen, die von Armut betroffen sind. Und das ist das einzige Maß, das in der Bekämpfung von Armut von Bedeutung ist.
Die FAZ zählt sogar die DR Kongo zu den ärmsten Ländern der Welt. Dabei ist es eines der reichsten. Das Land zählt zu den rohstoffreichsten Ländern auf unserem Erdball mit Bodenschätzen wie Koltan, Kupfer, Diamanten, Gold, Zinn, Mangan, Blei und Zink. Die Erdölvorkommen werden auf 180 Millionen Barrel geschätzt. Das sind rund 28,3 Milliarden Liter Erdöl. Die Hauptstadt des Landes Kinshasa ist eine brodelnde wohlhabende Stadt. Richtig ist, dass Reichtum in der DR Kongo sehr ungleich verteilt ist und dass die breite Bevölkerung viel zu wenig von den Bodenschätzen profitiert.
Besonders heikel sind Statistiken über das Einkommen der Menschen in Afrika. Dort wird gerne – wie jetzt auch in diesem Leitartikel – behauptet, es gäbe Menschen, die mit einem Einkommen von 400 Dollar im Jahr auskommen müssten. Das wären 343 Euro und somit 94 Euro-Cent am Tag.
Ganz ehrlich: Gibt es irgendjemanden in Europa, der tatsächlich glaubt, man könne selbst in Afrika von weniger als einem Euro am Tag leben? Die Vorstellung ist absurd.
Selbstverständlich gibt es in Afrika Armut, viel zu viel und viel zu viel strukturell bedingte Armut. Doch das bedeutet nicht, dass der Kontinent an sich arm ist. Ein Drittel der afrikanischen Bevölkerung zählt heute zur Mittelschicht, die von einem Einkommen als Angestellte eine Familie gut ernähren, ein Eigenheim wie auch ein Auto finanzieren und regelmäßig in den Urlaub fahren kann.
Die Wahrheit ist: In Afrika ist der Anteil der informellen Wirtschaft besonders hoch. Handel und Produktion laufen stärker als in den Ländern im Norden an den offiziellen Stellen vorbei. Damit erfassen Statistiker nur unzureichend die tatsächliche Wirtschaftsleistung und das tatsächliche Einkommen der Menschen. Dienstleistungen werden besonders oft getauscht – Haare flechten gegen eine Kanne Milch. Und viele Güter werden selbst hergestellt und müssen somit nicht für Geld gekauft werden.
Das bedeutet nicht, dass die Menschen in Afrika zwangsläufig arm wären. Viele haben nur kein Geld. Das ist ein Unterschied. Der Mangel an Geld stellt ein Problem dar, aber nicht jenes, an das wir in Europa häufig denken. Das Problem ist, dass Haushalte, die stark auf Tauschwirtschaft und selbst hergestellte Lebensmittel angewiesen sind, verwundbarer sind, wenn externe Schocks, etwa eine Dürre, auftreten.
Auch die Statistik, wonach ein großer Teil der afrikanischen Jugend von Auswanderung träumt, führt in die Irre. Ja, viele träumen von einem guten und erfolgreichen Leben. Was ist daran falsch? Es ist jedenfalls kein Hinweis darauf, dass sich Hunderte Millionen junger Afrikaner morgen auf den Weg machen werden, um über Europa herzufallen. Menschen träumen von vielem, ohne dass es konkrete Folgen hätte.
Laut einer amerikanischen Umfrage über Glück und Wohlbefinden haben 32 Prozent der Befragten mit einem Einkommen von weniger als 10.000 Dollar im Jahr gesagt, dass sie mit ihrem Einkommen unzufrieden seien. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Menschen demnächst eine Bank überfallen werden.
In einer Umfrage zur Frage, wovon die Deutschen träumen, haben 56 Prozent der Befragten mit einer Antwort aus dem Bereich Gesundheit reagiert. Das bedeutet aber nicht, dass die alle gleich eine private Krankenversicherung abschließen oder zu einem Wunderheiler gehen. Man kann von etwas träumen, ohne gleich eine konkrete Handlung daraus abzuleiten.
Pauschale Urteile über „Gesamtafrika“ drohen uns, den Blick auf die wahren Probleme des Kontinents zu verstellen. Sie wischen genau jene Nuancen weg, auf die es ankommt. Anstatt zu beklagen, dass vieles in Afrika schlecht läuft, könnten wir unseren Blick darauf richten, was in Afrika gut funktioniert und vielleicht besser als bei uns. Anstatt im Diskurs gefangen zu bleiben, dass Afrika ein hoffnungsloser Fall sei, könnten wir dazu beitragen, die Dinge zu verstärken, die sich zu fördern lohnen.
Viele Urteile aus Europa über Afrika klingen wie die Kommentare von Amerikanern, die nicht mehr nach Deutschland reisen wollen, weil auf Athens Straßen demonstriert wird. Ein allgemeines Lamento über Korruption und Missstände hindert uns daran, die Chancen in Afrika zu erkennen und wahrzunehmen. Auch in Afrika lohnt es sich, genauer hinzuschauen.